Vor 100 Jahren: Panik, Angst und ein Massaker

Vor 100 Jahren wurde die belgische Stadt „gestraft“. Ausgelöst wurde das durch ein Neusser Landwehrbataillon.

Vor 100 Jahren: Panik, Angst und ein Massaker
Foto: n.n.

Neuss. Der Krieg, den Belgier und Franzosen später „La Grande Guerre“ nennen sollten, hatte gerade erst begonnen, da forderte ein Gemetzel deutscher Truppen an Zivilisten und die Zerstörung der Altstadt im belgischen Löwen/Leuven eine verheerende Reaktion hervor. Das Bild vom deutschen Barbaren war seitdem in der Welt. Vor genau 100 Jahren kam es zum „Strafgericht von Löwen“. Das Neusser Landwehrbataillon hatte an den auslösenden Ereignissen maßgeblichen Anteil.

Vor 100 Jahren: Panik, Angst und ein Massaker
Foto: Engers, Uli (eng)

Jens Metzdorf, der Leiter des Neusser Stadtarchivs, erforscht diese Geschichte, die bislang in Veröffentlichungen keine Beachtung fand. Es gehe nicht darum, Anklage gegen einzelne Soldaten zu erheben, sagt der Historiker. Er wolle aufzeigen, zu welch schlimmen Folgen eine geschürte Panik führen kann: „Man muss es einfach benennen.“

Vor 100 Jahren: Panik, Angst und ein Massaker
Foto: Stadtarchiv Neuss

Anfang August 1914 waren deutsche Truppen im neutralen Belgien einmarschiert, hatten auch Löwen erobert. Die belgischen Soldaten zogen sich nach Antwerpen zurück. Ein Neusser Landsturm-Bataillon mit zwei Kompanien, zusammen etwa 300 Mann, wurde nach Belgien beordert. Die Männer des Landsturms, meist im Alter von 39 bis 45 Jahren und laut Metzdorf „weder kriegswillig noch geeignet“, rückten am 24. August in Löwen ein. Ihr Auftrag: das Bahnhofsviertel zu bewachen.

Die Männer waren höchst nervös, beschreibt Jens Metzdorf nach dem Quellenstudium die Ausgangslage: Gezielt hatten Politik und Militärführung seit Kriegsbeginn die Angst vor Franctireurs geweckt, vor Freischärlern, die angeblich aus den Häusern heraus den deutschen Truppen auflauerten.

Was am Abend dieses 25. August geschah, ist bis heute nicht geklärt. Was daraus wurde, was die Militärführung daraus machte, ist umfassend dokumentiert. Am Bahnhof jedenfalls fielen einzelne Schüsse. War es „friendly fire“, hatten sich die Schüsse gelöst? Die Landsturm-Soldaten verloren die Nerven, drangen in die Häuer ein, erschossen Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder, setzen Häuser in Brand. Dass die Angehörigen des Neusser Bataillons daran maßgeblich beteiligt waren, belegen deutsche wie belgische Quellen, sagt Jens Metzdorf, ebenso ihre Beteiligung an der Erschießung weiterer Zivilisten, die am 28. August durch die Stadt geführt wurden. Auch gibt es Berichte von Militärs, die gerade bei diesen Landwehrleuten mangelnde Disziplin und überreichen Alkoholgenuss bemängelten.

Die Militärführung verteidigte den aus der Panik entstandenen Ausbruch der Gewalt sofort und münzte ihn in einen Befehl um: Die Stadt sollte zur Strafe zerstört werden. Große Teile der Altstadt wurden daraufhin in Schutt und Asche gelegt, auch die berühmte Universitätsbibliothek, das „belgische Oxford“, wurde gezielt in Brand gesetzt. Mehr als 200 Zivilisten starben. Auf deutscher Seite Seite verzeichnen die Quellen fünf tote Pferde.

Eine deutsch-belgische Historiker-Kommission stellte in den 50er Jahren fest: Einen Angriff von Franctireurs hatte es nicht gegeben.

Der Neusser Kompanieführer, der den Krieg überlebt und nach Neuss zurückgekehrt war, verließ die Stadt 1919 — als Neuss belgisch besetzt wurde. Übergriffe gab es nicht, sagt Metzdorf, „obwohl alle wussten, was in Löwen passiert war.“

Der Historiker betitelt seinen Aufsatz, der im Dezember im Jahrbuch Novaesium erscheinen wird, „Eine Stätte des Grauens“. Es gab viele Stätten des Grauens, sagt er. Im Krieg sei die Zivilbevölkkerung immer Opfer. „Es gibt keinen kontrollierten Krieg. Nichts anderes beleuchtet diese Arbeit.“

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