Vor 90 Jahren in Neuss: Als die Belgier das Sagen hatten

Ab 1923 war Neuss besetzt. Die Inflation erreichte schwindelnde Höhen.

Neuss. Es waren harten Zeiten. Von heute auf morgen mussten Eisenbahner in Neuss ihren Arbeitsplatz bei der Reichsbahn aufgeben, waren gezwungen, die Stadt zu verlassen. Vor 90 Jahren verfügte die belgische Besatzungsmacht, dass die passiven Widerstand leistenden Männer und ihre Familien in unbesetztes Gebiet übersiedeln mussten. Nicht wenige landeten in St. Peter-Ording. wurden dort weiter vom Staat bezahlt. Ein Szenenbild aus dem Ruhrkampf.

Zu Beginn des Jahres 1923 hatten belgische Truppen Neuss besetzt. Die Reichsregierung propagierte den passiven Widerstand, und auch in Neuss beging man den „nationalen Trauertag“. Doch es ging nicht nur um Emotionen. Bitter war die Not der Menschen, die Wirtschaft lag am Boden. Es gab Verhaftungen, es kam zu Beschlagnahmen, es fehlte an Kohle, und die Inflation stief auf immer neue Spitzenwerte. Ein Viertel der Bevölkerung war von öffentlicher Unterstützung abhängig, so Stadtarchivleiter Jens Metzdorf. Das Schützenfest fiel 1923 wie 1924 aus. Das Notgeld konnte nur noch körbeweise transportiert werden, der Wert eines Scheins erreichte zum Herbst den skurrilen Wert von 10 Billionen Mark.

Im Rathaus mühte sich der angesehene, überparteilich agierende Oberbürgermeister Heinrich Hüpper, die Situation zu meistern. Im Spätsommer verschärfte sich die Lage noch einmal, weil separatistische Bewegungen, zum Beispiel in Aachen, die Abspaltung des Rheinlands vom Deutschen Reich betrieben. In Neuss fanden sie kaum Anhänger. Hüpper ließ das Rathaus mit Barrikaden und Stacheldraht in den Verteidigungszustand versetzen, bildete aus städtischen Beamten, Polizei, Feuerwehr, Gewerkschaften und Vereine einen Sicherheitsdienst, wie Metzdorf berichtet. Doch die Auseinandersetzung mit den Separatisten blieb Neuss erspart.

Erst Ende Januar 1926 endete in Neuss die Besatzungszeit. Oberbürgermeister Hüpper schlug im Stadtrat versöhnliche Töne an. „Wir wollen dem abziehenden Gegner heute nicht Worte des Hasses nachrufen.“ Und mahnend fügte der Stadtchef, der ein Jahr darauf als Oberbürgermeister nach Krefeld wechselte, an: „Wir wollen und dürfen die Einigkeit, die uns in schwerer Zeit zusammenhielt und stark machte, nicht durch innere Parteienkämpfe immer wieder gefährden.“

Auch die Eisenbahner kehrten von der Ostsee zurück. Ihre Wohnungen waren zumeist leer, die „Regie“ genannten Belgier hatten die Möbel mitgenommen. Zurückgelassen hatten sie den Ausquartierten manchmal einen stinkenden Salzhering, der von der Decke baumelte.

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