„1980“: Spielwiese für Spitzentänzer

32 Jahre nach der umstrittenen Uraufführung überzeugt die aktuelle Version: Das Tanztheater wurde im Opernhaus gefeiert.

Wuppertal. Der Knoten platzt, als sich Mechthild Großmann wie ein Feldwebel — und das auf Stöckelschuhen — am vorderen Bühnenrand bewegt. „Mein Gott, ist der Rasen schön!“, sagt die Schauspielerin im Brustton der Überzeugung. Der erste Szenenapplaus des Abends gilt ihr. Und auch die Wiese gehört in diesem Moment allein ihr: Schon vor 32 Jahren war Großmann, inzwischen „Tatort“-Star und damit TV-Staatsanwältin, auf dem „grünen Teppich“ in Wuppertal unterwegs.

Für „1980“ hat ihn das Tanztheater erneut ausgerollt. Und so darf Großmann das Opernhaus demonstrativ mustern. „Ist ja wirklich ein Schmuckkästchen“, schmettert sie dem Publikum laut lachend entgegen. Und wo die Dame mit der unvergleichlich tiefen Stimme gerade dabei ist, alle Blicke auf sich zu ziehen, hat sie auch noch diesen Hinweis parat: „Grillen ist auf den oberen Rängen übrigens erlaubt!“

Nun geht im ausverkauften Opernhaus allerdings keine Grillparty, sondern eine Neueinstudierung über die Bühne. Feuriges Temperament beweist dabei vor allem eine: Großmann fungiert als Stimmungsmacherin und zeigt, dass das Pina-Bausch-Ensemble speziell eines par excellence zelebriert — das augenzwinkernde Spiel mit dem Publikum, das auch Lutz Förster perfekt beherrscht. Er wandert durch die Reihen und serviert Tee — während Zauberkünstler Reiner Roth auf der Bühne steht und durchaus symbolisch kleine Netzwerke knüpft: Er verbindet Seile und löst sie prompt wieder auf.

Doch der Knoten platzt eben erst, wenn Großmann menschliche Seilschaften entlarvt. Dann stapft sie mit zielgerichteten Schritten auf ihre Mitspieler zu, lässt sie in Reih und Glied stehen und mustert die Körper wie bei einer Fleischbeschau. Die Möchtegern-Models von heute, die bei Heidi Klum Fernseh-Karriere machen möchten, dürften sich auch nicht anders fühlen.

Und doch haben sich die Zeiten geändert: Nach der Uraufführung im Mai 1980, damals noch höchst umstritten und erst auf dem Weg zum internationalen Durchbruch, wurde Pina Bausch nicht gerade mit Blumen überschüttet. Im Gegensatz zur Zuschauerreaktion hat sich die Kulisse nicht verändert: Die Wiese von Peter Pabst ist nach wie vor ein Tummelplatz für Kinderspiele, die belanglos wirken, aber einen ernsten Hintergrund haben.

Einsame Herzen bringen sich selbst ein Geburtstagsständchen, andere jonglieren unbekümmert mit Wackelpudding. Großartig gibt Julie Shanahan die aufgedrehte Egomanin. Und auch der Rest sucht buchstäblich die Sonnenseite des Lebens: Manch einer macht die seltsamsten Verrenkungen, um an kuriosen Körperstellen braun zu werden.

So ist „1980“ ein heiter-melancholisches Erlebnis — wenn auch mit drei Stunden und 40 Minuten eindeutig zu lang geraten. Bei den vielen Kindheitserinnerungen könnte auf grünem Untergrund getrost der Rotstift gezückt werden. Einzelne Szenen aber berühren immens. Lutz Förster, der die Proben zusammen mit Dominique Mercy geleitet hat, formuliert eine Liebeserklärung an einen Stuhl. Die Kommunikation mit Gegenständen kann einfacher sein als ein Dialog unter Menschen, so scheint es. Denn Abschied ohne Floskeln zu nehmen, fällt schwer. Steif stehen die Tänzer Ruth Amarante gegenüber. Allein Regina Advento umarmt sie — sprachlos.

Schade nur, dass auf dieser Spielwiese „richtige“ Tanzszenen rar gesät sind. Denn gerade in den Momenten, in denen das Ensemble in trauter Harmonie zu einer verschmitzt lächelnden Gruppe wird, blitzt jene Leichtigkeit des Seins auf, nach der einsame Geburtstagskinder verzweifelt suchen. Am Ende findet sich jedoch eine Gemeinschaft im Saal: Die Zuschauer stehen nahezu geschlossen auf und feiern das Ensemble mit stehenden Ovationen.

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