Bergische Marktführer (40): Schneidet alles außer Haut

„100 Prozent made in Germany“ — und eine patentierte Schere für kleine Kinder, die jetzt auch in der Industrie getestet wird.

Wuppertal/Solingen. „Wir fertigen ein Produkt, das keiner wahrnimmt“, sagt Torsten Kretzer, geschäftsführender Gesellschafter der Kretzer Scheren GmbH in Aufderhöhe. „Scheren sind nicht bewusst vorhanden.“ Jeder Junge erinnere sich an sein erstes Taschenmesser — aber bestimmt nicht an die erste Schere. Torsten Kretzer: „Wenn ich frage, wie viele Scheren in einem Haushalt vorhanden sind, sagen die meisten fünf. Tatsächlich sind es aber zehn bis 15.“

Das Solinger Unternehmen, das im nächsten Jahr seinen 90. Geburtstag feiert, fertigt viele davon, obwohl 90 bis 95 Prozent für professionelle Anwender produziert werden. Rund 1,1 Millionen Scheren verlassen den Betrieb pro Jahr. „Wir sind der größte Hersteller Solinger Scheren“, erklärt der 50-Jährige. „Bei vielen Modellen sind wir zumindest Marktführer in Europa — etwa bei Leder-, Tapezier- und Bodenleger-Scheren. Unsere Rettungsschere finden Sie in jeder Ambulanz Deutschlands und in jedem Rettungswagen.“

Angeboten werden geschmiedete und gestanzte Scheren. Die gestanzten liegen durch ihren Zweikomponenten-Kunststoffgriff besonders gut in der Hand. Der Katalog listet 750 Artikelnummern auf; 350 gehören zu speziellen Kundenmodellen. Da wird etwa zum Schneiden von Naturfasern die Spitze einer Schere verändert, während für die Bearbeitung von Hightech-Fasern andere Ansprüche gelten.

Mit Kretzer-Scheren wird der Stoff für Raumanzüge der Nasa und für schusssichere Westen ebenso zugeschnitten wie das Material für Rotorblätter von Windkraftanlagen. So modern wie die Anwendungsgebiete sind die Anlagen, auf denen produziert wird. „Wir haben große technische Herausforderungen“, betont der Geschäftsführer. Vor allem bei Standardmodellen ist vieles automatisiert. Zum Maschinenpark gehört beispielsweise ein Montageroboter, der die beiden Scherenteile (Ober- und Unterbeck) mit einer Schraube verbindet und die Spitze schleift.

Die letzte Kontrolle übernehmen aber immer Menschen. Jedes Jahr stellt Kretzer drei neue Auszubildende ein: „Es gibt schon lange keine Facharbeiter mehr.“ Der Arbeitsplatz in Aufderhöhe ist dabei zurzeit sicher: Kretzer profitiert davon, dass sich der Markt während der Rezession bereinigt hat. „Wir gewinnen relativ viele Großkunden dazu. Solange es in der deutschen Industrie läuft, geht es uns gut“, freut sich der Firmenchef. „Außerdem sind die Verbraucher aus der Geiz-ist-geil-Phase heraus.“

Auch der schwache Euro hilft: Die Hälfte des Umsatzes macht Kretzer im Ausland; die USA, wo man eine Tochtergesellschaft in Atlanta unterhält, sind der größte Auslandsmarkt, gefolgt von Frankreich. Europa spielt in diesem Jahr beim Wachstum aber eher die zweite Geige. Kretzer: „Griechenland war ein sehr starker Markt für uns, ist aber sehr anfällig geworden — ähnlich wie Spanien. Wir werden getragen durch Deutschland, Nordamerika und den arabischen Raum.“

Während das Wachstum in Nordamerika bei 20 Prozent liegt, sind es im arabischen Raum momentan 10 Prozent. „Gut 100 000 Friseurscheren gehen jedes Jahr vor allem in die Golfstaaten“, erläutert Torsten Kretzer.

Auf den Scheren steht zwar „Made in Solingen“. Geworben wird aber mit „100 Prozent made in Germany“, denn „das scheint ein gutes Instrument zu sein.“ Und vielleicht erinnert sich später doch mancher Erwachsene an seine erste Schere — weil sie besonders sicher war. Kretzer: „Wir sind der einzige Scherenhersteller, der stolz darauf ist, eine Schere zu haben, die nicht schneidet.“ Das Modell für unter Dreijährige „schneidet alles außer Haut“. Das Geheimnis des patentierten Modells: „ein sehr spezielles Material und ein bestimmtes Schleifbild“.

Was sich seit fünf Jahren bei kleinen Kindern bewährt, hat auch das Interesse von Firmenchefs in der Industrie geweckt: Die sichere Schere wird in Europa und den USA getestet. Kretzer: „Soweit ich weiß, ist diese Schere einzigartig auf der Welt.“

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